Projekt DEN KÄFER TRÄUMEN – Ausstellung mit Marianne Demmer in SCHAUFENSTER der Stadtbibliothek Kreuztal

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Christian W. Thomsen

Anmerkungen und Erläuterungen zu Marianne Demmers Ausstellung:

DEN KÄFER TRÄUMEN –

Transformationen, Assoziationen und Spielereien zu Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung

  1. Zum Ausstellungsort

Liebe Kunstfreunde,

willkommen zu Marianne Demmers Ausstellung DEN KÄFER TRÄUMEN hier im Eingangsbereich der Kreuztaler Stadtbibliothek. Ich möchte mit einem Glückwunsch an die Stadt Kreuztal beginnen: „Gratulatione, superbo!“ Diese Bibliothek ist ein absolutes Glanzlicht, ein Juwel, das Kreuztal insgesamt aufwertet. Ich bin die ersten vier Jahre meiner Zeit im Siegerland von 1973 – 77 ja selbst Bürger Kreuztals gewesen, war in dieser Zeit auch kommunalpolitisch tätig.

Die positive Beziehung zu Kreuztal ist uns nie abhanden gekommen, obwohl wir 1977 nach Siegen gezogen sind, weil wir dort unverhofft, nur 6 Minuten Fahrweg von der Uni entfernt, einen wunderschönen Bauplatz gefunden haben. Da gab’s ungeachtet zahlreicher Kreuztaler Angebote, kein Halten mehr. Dennoch arbeite ich seit vielen Jahren mit Vergnügen an Kreuztaler Kulturprojekten mit und finde, dass Holger Glasmachers und Heike Ritter mit ihren Helfern einfach einen tollen Job machen und im Vergleich zu früher ein umfangreiches, anspruchsvolles und ausstrahlendes Kulturprogramm auf die Beine stellen.

Seit der Eröffnung habe ich viele Stunden in dieser Bibliothek verbracht, mich an der lichten, einladenden Raumatmosphäre mit zahlreichen Sitzgelegenheiten und Annette Besgens großen Gemälden als künstlerischen Blickfängen erfreut.

  1. Zum Werdegang Marianne Demmers und Heinrich Waegners

Marianne Demmer, Jahrgang 1947, ist Tochter aus streng pietistisch-evangelikaler Wittgensteiner Familie, deren Ursprung sich bis auf eingewanderte Hugenotten zurückführen lässt. Sie hat sich dennoch erstaunlich rasch aus den überbehütenden Fesseln und Vorschriften eines solchen Elternhauses befreit, in dem sie schon mit 20 Mutter wurde und heiratete. Sie hat an der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, Abteilung Siegerland, „auf Lehramt“ an Grund- und Hauptschulen studiert und 1969, drei Jahre vor Gründung der Gesamthochschule, die später in zwei Schritten, 1980 und 2003, endgültig zur Universität mutierte, ihr Examen gemacht. Nach dem Vorbereitungsdienst aufs Lehramt nahm Marianne für drei Jahre bei meinem germanistischen Didaktik-Kollegen Wolfgang Popp, die Vertretungsstelle einer wissenschaftlichen Assistentin an. Als Vertreterin des so genannten „Mittelbaus“ saß sie dann von 1972 – 75 ebenfalls für drei Jahre im Gründungssenat der Siegener Gesamthochschule, dem ich als Gründungssenator von 1973 – 83 angehörte. Zwei Jahre lang waren wir dort also Kollegen. Doch daran sind höchstens blasse Erinnerungen geblieben, weil ich damals mein eigenes Fach, Anglistik / Amerikanistik aufbauen musste, Mitglied oder Vorsitzender von 13 Berufungskommissionen war und zwei Hauptausschüsse zu leiten hatte, von deren Materie ich zunächst kaum einen blassen Schimmer besaß.

Für Marianne begann Mitte der 70er-Jahre eine 20 Jahre währende wechselvolle Laufbahn als Lehrerin, welche sie zuletzt an die Winchenbachschule in Siegen führte, von wo aus sie schließlich 1996 hauptamtlich in die Dienste der GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft) trat, deren stellvertretende Vorsitzende sie drei Jahre später wurde, ein Amt mit vielen Berührungspunkten zu Schulen, Universitäten und Politik, das sie bis 2013 bekleidete. Es liegt Folgerichtigkeit darin, dass sie heute im „Ruhestand“, neben der Künstlerin, die sie seit ihrer Jugend gewesen ist, im Hochschulrat der Uni Siegen, einem Leitungsgremium, tätig ist, welches dem Senat übergeordnet, die Beschlüsse und Aktivitäten des Rektorats zu kontrollieren hat.

Mariannes 2010 verstorbener Ehemann Reinhard war ein Westerwälder Allround-Genie, der mir nur als Fotograf bekannt war, dessen größte Leidenschaft jedoch im Restaurieren wertvoller Oldtimer bestand. Deren giftige Lacköl-Dämpfe, die er ohne Maske über viele Jahre hin einatmete, trugen schließlich wesentlich dazu bei, seine Raucherlunge endgültig zu ruinieren.

Heinrich Waegner

Mein alter Freund Heinrich Waegner (Jg.1942) kam 1980 im Gefolge seiner amerikanischen Frau Cathy, die wir drei Jahre zuvor als Lektorin für Amerikanistik nach Siegen berufen hatten, aus Bayern ins Siegerland. Er wurde Studienrat und später Oberstudienrat am EV, dem Evangelischen Gymnasium, in Siegen. Hier gründete und leitete der dann jahrzehntelang die Theatergruppe, welche als „Theaterkiste“ viele nationale und internationale Preise einheimste. Sie zählte mit ihren phantasievollen, präzis ausgearbeiteten Eigenproduktionen zu den besten europäischen Jugendtheatern. Gerade im Verlauf der letzten Wochen habe ich wieder mit einigen ehemaligen Kollegen gesprochen, die sich voller anhaltender Bewunderung an unvergessliche Theater-Erlebnisse mit Heinrichs Truppe erinnerten.

Unsere persönliche Zusammenarbeit bezieht sich lediglich auf ein gemeinsames, aber bahnbrechendes Stück, nämlich In Medias Rubens, mit dem wir 1994 die Turnhalle des ehemaligen Lyzeums in der Siegener St. Johann-Straße mit Hilfe des Kreises unter Hinauskomplimentieren von 40 dort übenden Sportvereinen zum Blackbox-Theater umbauten, woraus schließlich das heutige Lÿz entstand.

Heinrich ist aber auch als Autor von Theaterstücken und zahlreichen kleinen Gedichtbänden, oft in Zusammenarbeit mit Malern, hervorgetreten. Lyriker haben es in Deutschland schwer, und Heinrich hätte eine umfassende Edition seiner Gedichte verdient. Da er auch bei verschiedenen Gelegenheiten Texte und Gedichte zu Projekten und Bildern von Marianne Demmer geschrieben hatte, beschloss ich, wenn möglich, ihn in unser Kreuztaler Boot zu holen.

  1. Wie ist es zu dieser Ausstellung und ihrem Thema gekommen?

Vor dem letztjährigen Herbsttreffen unserer Ausstellungs-Jury für den Kreuztaler Kulturbahnhof stellte ich mir eine Liste von Künstlern zusammen, die ich gerne in nächster Zeit in einem Werkausschnitt kuratieren würde. Und da stand Marianne Demmer mit an vorderster Stelle. Ich besprach das mit Inge, meiner Frau, die stimmte voll zu, hatte sie doch vor etlichen Jahren im Siegener „Cultura“-Frauen-Künstlerkreis mit Marianne zusammengearbeitet.

Ich hingegen kannte Marianne Demmer persönlich nur sehr flüchtig. Ich hatte aber auf verschiedenen Siegener Ausstellungen der letzten Jahre ihr Oeuvre in seiner Vielseitigkeit und künstlerischen Qualität schätzen gelernt, und wusste, dass es sich bei ihr um eine gestandene Künstler-Persönlichkeit mit großer Lebenserfahrung handelt.

Also rief ich an einem Nachmittag im November 2017 Marianne Demmer an und outete mich als ihr Fan, was sie bass erstaunte, jedoch freudig, so nehme ich mal an. Wir verabredeten ein Treffen im Hause Thomsen und Marianne rückte mit einer ganzen Reihe von möglichen Exponaten an, die sie zu jener Zeit beschäftigten. Es handelte sich dabei um transparente Gliederpuppen, die man in zahlreichen Verrenkungen von der Decke hängen oder an Wänden befestigen konnte. Thema, der immer durchsichtiger werdende, immer gnadenloser manipulierbare Mensch im Zeitalter von Big Data, einer der gegenwärtigen Haupt-Diskussionspunkte.

Wir entwickelten beide Titelvorschläge zu diesem Thema. Marianne surfte und schwelgte geradezu in Begriffen zu „Transparenz“ und „Transformation“ des modernen Menschen. Deren für mich originellster lautete „Lucido, der gescannte Mensch“, während ich auf dem Titel „Homo Transparens“ herumritt.

Damit gingen wir nach Kreuztal, hatten aber in diesem Fall die Rechnung ohne den Wirt in Person von Holger Glasmachers gemacht. Der nämlich sagte: „Wir hatten in der letzten Zeit zahlreiche Ausstellungen von Fotokünstlern und du hast im Juli auch wieder einen, nämlich Mustafa Kizilcay, da ist mir das zu fotografisch, können wir damit nicht in die Stadtbibliothek gehen, wo wir am Eingang über unsere zweite Ausstellungswand verfügen?“

Das Wort „Bibliothek“ löste bei Marianne sofort die Überlegung aus, dass es dann um eine Begegnung von Literatur und Bildkunst zu gehen habe, ein ganz anderes Thema. Und von da war es für uns beide nur noch ein Gedankensprung zu Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung, in der sich ein Mensch in ein Insekt, eine Art monströsen Maikäfer, verwandelt.

In unserer Generation der 50er- und 60er-Jahre gehörten Kafkas Erzählungen zur Pflichtlektüre in der Oberstufe einer jeden höheren Schule. Heinrich und ich haben in Schule und Studium der Germanistik sehr viel Kafka gelesen. Für ihn war er einer der prägendsten Autoren seiner Studienjahre, und ich schrieb meine große germanistische Hauptseminar-Arbeit 1963 über die „Kafka-Rezeption in Großbritannien und den USA“.

Marianne wurde schon in jungen Jahren durch ihren belesenen Mann Reinhard auf Kafka gestoßen. „Den musst du lesen.“ Bei uns verläuft das heute meist umgekehrt. Inge, eine unersättliche Leserin, sagt zu mir auf Schwäbisch: „Des musch läse!“

Bei einem Treffen mit Holger und Kirstin Krässel am 27. Februar hier in der Bibliothek rückte Marianne mit einer Kafka-Bilderserie an, die uns begeisterte. Sie zeigt den schmächtigen, nackten, mit geneigtem Kopf melancholisch dreinblickenden jungen Kafka, wie er in einem träumerischen Gedankenstrudel sich in die Vorstellung hineindenkt, sich in einen Käfer zu verwandeln. Der Titel dieser Ausstellung war geboren: „Den Käfer träumen“.

Nun aber ist es an der Zeit, tatsächlich die Eingangssätze von Kafkas weltberühmter Erzählung „Die Verwandlung“ zu zitieren:

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
»Was ist mit mir geschehen?«, dachte er.

Es war kein Traum …“

Marianne aber geht, künstlerisch legitim, davon aus, dass es sich bei der gesamten Erzählung um die eines Traumes handelt, dessen allwissender Erzähler sogar aus der sich ständig weiter verengenden Gedanken-Perspektive des geschundenen und schließlich verendeten Käfers zu berichten versteht. Marianne hingegen macht sich mit ihren bildnerischen Mitteln und Medien daran, jene sich wandelnden Aggregatzustände eines Bewusstseins bildnerisch zu gestalten.

  1. Benutzte Techniken und Medien

Marianne und ich gehören ja – fast – der gleichen Generation an, ich 1940 mitten im Krieg geboren, sie, zwei Jahre nach Kriegsende, schon ein Nachkriegskind. Da gibt es jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen uns: Sie lernte bereits in ihrer Zeit als Lehrerin mit dem in den 90er-Jahren allmählich Gemeingut werdenden Computer umzugehen. Vor allem wurde sie von der brennenden Neugier getrieben, sich alle Techniken der digitalen Bildbearbeitung anzueignen. Das verstärkte sich insbesondere während ihrer GEW-Zeit.

Da verbrachte sie nämlich einen Großteil ihrer Arbeitszeit auf Bahnreisen, reiste mit ihrem Schwerpunkt Bildungspolitik von Vortrag zu Vortrag, von Verhandlung zu Verhandlung. Unterwegs fand sie viel Zeit, sich mit ihrem Laptop zu beschäftigen. Sie lernte Photoshop rauf und runter, lernte, sich in Programme einzuarbeiten, mit Hilfe derer man Bilder beschneiden, verfremden, schichten, überblenden, Textausschnitte mit gemalten Bildern mischen und so zuvor ungekannte Bildwelten gestalten und erschließen kann, ganz zu schweigen von der Fülle an Farbnuancen, die einem der Computer anbietet. Hinzu kommt die Zusammenarbeit mit modernen Print- und Fotostudios.

Ich selbst lernte diese Techniken nur in geringem Maße, weil ich für meine komplex designten Bücher erst spezialisierte Verlagsmannschaften zur Verfügung hatte, und später studentische Hilfskräfte einstellen konnte, die bereits Medienprofis waren.

Marianne druckt die Resultate ihrer Computerarbeit auf Folien und kaschiert sie auf dünne Acrylscheiben auf. Letzteres wirft natürlich jene schon von Walter Benjamin in seinem berühmten Aufsatz von 1935 über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ gestellte Frage nach der Originalität technisch produzierter Bilder auf. Diese können ja in Serie gedruckt werden. Sie sind im Grunde alle gleichwertige Originale und bestehen letztlich aus Computerdateien. Benjamin unterstellte ihnen, dass sie ihre, Originalgemälden eigene, „Aura“ verlören. Die Frage bleibt immer noch relevant, zumal heute jedes Foto unbegrenzt manipulierbar geworden ist.

Künstler können durch ihre persönliche Signatur gedruckten Bildern gewissermaßen ihre Unschuld zurückgeben, doch ein Unterschied bleibt. Auch Marianne hat in einer früheren Phase fotorealistischer Malerei traditionell mit Acryl auf Leinwand große Kafka-Porträts und Bilder gemalt, die ihn, umgeben von den in seinem Leben wichtigen Frauen, oder in verschiedenen Stadien seiner Persönlichkeitsspaltung zeigen.

Marianne stellt daneben aber seit langem kleine Objekte aus verschiedenen Materialien wie Holz, Draht, Stoff, Papier, Bauschaum her, die im Grunde die Arbeitsweisen ihrer dörflichen Vorfahren wiederaufleben lassen. In unserem Fall sind das Käfer eigener Provenienz, aber auch die große Sohnesfigur,eben Franz Kafkas.

  1. Interpretationsansatz zu den Exponaten in dieser Ausstellung

Sie haben gehört, dass Marianne Demmer sich schon seit Jahren mit Person und Werk Kafkas künstlerisch auseinandergesetzt hatte. Es gibt fotorealistisch gemalte, großformatige Porträts ebenso wie experimentelle Arbeiten. Letztere kombinieren Ausschnitte aus den großen Bildern, verfremden sie durch Rotation und Spiegelungseffekte und lassen somit völlig neue Bilder entstehen, die das Chaos in Kafkas Seele sichtbar machen. Sie setzt z. B. auch den schnauzbärtigen Vaterkopf in Doppelung einander gegenüber oder lässt sogar beide, Vater und Sohn, zu Käfern mutieren. In einem Bild, das vom Realismus in die Phantastik changiert, lässt sie aus gespiegelten Versatzstücken von Augen und Kopf einen geradezu martialisch-bösartig dreinblickenden, gewissermaßen mit einer Science-Fiction-Rüstung gewappneten Kampf-Käfer entstehen. Der mutet einen an, wie aus einem Star-Wars-Film entsprungener Alien oder Robotik-Avatar.

Der Großteil der hier vorgestellten Arbeiten,die quasi einen Verwandlungsprozess in Varianten darstellen, ist erst in den beiden letzten Monaten entstanden.

Unmittelbar nach der erwähnten Sitzung habe auch ich jene beiden Texte, die Marianne in Bilder umsetzt, erneut gelesen. Die dazwischenliegende Pause nach meiner Studienzeit beträgt 55 Jahre. Sie umfasst die Lebensreise einer äußerst ereignisreichen Professorenkarriere, u. a. mit Gastprofessuren in acht Ländern, darunter 1982 eine an der Hebrew University auf dem Mount Scopus in Jerusalem. Letztere bescherte mir eine Reihe mich bis auf den heutigen Tag zutiefst prägender Erlebnisse.

So las ich denn auch Die Verwandlung (Nov. 1912) und den fast hundertseitigen Brief an den Vater (Dez. 1919), der seinen Adressaten nie erreichte, weil Kafkas Mutter, welcher Sohn Franz den Brief zur Weiterleitung übergab, dies wohlweislich unterlassen hat. Beide Texte haben mich gründlich durchgerüttelt und erschüttert.

Geschildert wird ein von steten Versagensängsten gequälter Sohn, unter dessen Händen ein bizarr überzeichnetes Vaterbild von erdrückender, polternder Dominanz, bar jeder Feinfühligkeit und jeden Verständnisses für seinen Sohn entsteht. Der macht sich klein, wird von Schuldgefühlen gequält und buhlt gewissermaßen, sich am Boden krümmend, um ein Minimum von Anerkennung und Liebe.

An Gregor Samsa ist die Verwandlung über Nacht geschehen. Und nun wird geschildert, wie in einem monatelangen Prozess die anfangs noch vorhandene Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen im Käferkostüm immer weiter eingeschränkt und tatsächlich zu der eines Insekts wird. Letzteres wird eingesperrt, beiseitegeschoben, ausgegrenzt. Niemals versucht er zu fliegen, im Gegenteil, der Gregor-Samsa-Käfer ist von Anfang an todgeweiht. Sein menschliches Bewusstsein verdämmert langsam, bis es schließlich erlischt. Und der übriggebliebene Dreck, dieses Geschmeiß, wird beiseite gekehrt, ist zu Müll geworden. Eltern und Geschwister haben sich unterdessen zu konformen Spießern der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft entwickelt, die heilfroh sind, den Störenfried los zu sein.

Aus heutiger Sicht liest sich Kafkas mit ungemeiner bildlicher Präzision geschriebener Bericht über den alles überlagernden Vater-Sohn-Konflikt und über die Beziehungsprobleme zu Mutter, Schwestern und Frauen allgemein hinaus geradezu prophetisch als vorausgeahntes Schicksal des deutschsprechenden tschechischen Judentums in Prag, ja des eigentlich assimilierten deutschen Judentums insgesamt. Es wird ausgelöscht. Dieser Teil des Volkskörpers wird vernichtet, während die übrigen Familienmitglieder sich irrig in der Lebenswelt mitteleuropäischen Spießbürgertums geborgen fühlen.

Neben all der Verzweiflung, den Minderwertigkeitskomplexen, den Angst- und Schuldgefühlen sowie der Tragik, welche Kafkas Texte den Leser durch das Auge in sein Gehirn und seinen gesamten Körper diffundieren lassen, stecken die Texte jedoch auch voller Komik, voller grotesker Komik. Das Groteske ist ja das Lachen, welches einem im Halse stecken bleibt, die verzerrte Kehrseite der Medaille, das Lachen im Angesicht des Grauens, die komische Dimension der Tragik.

Kafka und seine Freunde lasen sich seine „schlimmen“ Geschichten, wie er sie nannte, oft gegenseitig vor und konnten dabei häufig vor Lachen nicht weiterlesen.

Marianne nun nimmt alle diese Elemente in ihre Acrylbilder und im Computer generierten Bildkompositionen auf. Das Auge als Zentralorgan überlagert Textausschnitte, tritt gleichsam aus ihnen hervor. Es ist das Auge Kafkas, Gregor Samsas, der Künstlerin und zugleich das des Betrachters. Letzterer verfolgt den nackten jungen Kafka-Samsa, wie er mit der Vorstellung, sich in einen Käfer zu verwandeln, kokettiert, spielt, sie sich schließlich mit Haut und Haaren zu eigen macht.

Er schlüpft wie in eine gepanzerte Körperhülle hinein. Er wird ganz Käfer, blickt mit ängstlich – bösen erst Menschen-, dann Käferaugen aus seiner, Eigenkörper gewordenen, Verkleidung heraus. Dann wandelt er sich vollständig zum Käfer, lässt aber versuchsweise auch den Vater zum Käfer werden.

Marianne gelingt es vorzüglich, den Verwandlungsprozess wie auch dessen Tragikomik ins Bild zu bannen, Kafkas bildreiche Sprache in visuell nachvollziehbaren Schritten darzustellen. Dabei nimmt sie sich die künstlerische Freiheit, spielerisch und assoziativ mit den beiden Texten umzugehen, sie sich überlagernd ineinander zu verschränken und so zu ganz eigenen Werken zu transformieren.

Was die Käfer angeht, so hätte ich gern gesehen, wie Marianne ähnliche den Werken des berühmten belgischen Autors, Regisseurs, Bildhauers und Verwandlungs-Käferkünstlers Jan Fabre, das Kreuztaler Schaufenster mit einer Fülle von Krabbeltieren aus allen Ritzen, am Boden und Decke, überquellen lässt.  Sie hat  den Prototyp eines Fabres Krabblern vergleichbaren Käfers aus einer Süßkartoffel geschnitzt. Leider hauchte dies Exemplar sein Käferleben aus, bevor sie ihn in Gießharz als künstlerisches Artefakt verewigen konnte. So müssen wir uns mit Fotos ihrer Eigenbau – Käfer begnügen. Käfer en masse aber werfen raumbedingte Probleme auf. Wie Bart de Baere es für Fabre formuliert: „Die Käfer sind gleichzeitig Substanz und Atmosphäre für einen Raum der Phantasie.“

  1. Das Verwandlungsthema

Mit dem Thema „Verwandlung“ stellen sich Kafka und Marianne Demmer in die lange Traditionskette eines uralten Menschheitsthemas, nicht nur in Literatur und Kunst. In Mythen, Märchen, Legenden sind Verwandlungen von Menschen in Pflanzen, Tiere, gar Gestirne an der Tagesordnung. Mythen sind immer Erzählungen, die großen Mythologien zahlreicher Kulturkreise dagegen meist vorwissenschaftliche Welterklärungsmodelle, in denen es jedoch von Verwandlungen nur so wimmelt.

Ovids Metamorphosen etwa, heute, kaum noch gelesen, in früheren Epochen allgemeines Bildungsgut bürgerlicher Schichten, übten mit ihren 250 Verwandlungen immensen Einfluss auf Kunst und Literatur von Mittelalter und Barock aus.

Bei Ovid wird jeweils ein Mensch oder niederer Gott in eine Pflanze, ein Tier, ein Gestirn und am Ende sogar Caesars Seele in einen Stern verwandelt.

Denken Sie weiter an Shakespeares Mittsommernachtstraum, in dessen Zauberwelt ein „Bäumchen wechsle dich“-Verwandlungsspiel verschiedener Charaktere stattfindet. Stets geht es dabei um Identitätssuche, Identitätswechsel. Lewis Carrolls Alice in Wonderland kommt mir in den Sinn und eine Reihe moderner Science-Fiction-Filme ebenso.

Aber wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Viele von uns gehören der Großeltern-Generation an. Bei Enkeln, noch bewusster als bei den eigenen Kindern, erleben wir die kindliche Freude und Lust am Sich-Verstecken „Wo bin ich?“, Sich-Verkleiden, am Rollenspiel. Da werden auch Identitäten gesucht. Ihre Variationsbreite wird ausgetestet, gespielt, die eigene Identität gefestigt.

Nichts Anderes liegt letztlich auch dem Beruf des Schauspielers zugrunde. Der Identitätswechsel verbindet sich im Spiel mit Tanz und Musik, den rituellen Wurzeln des Theaters. Man kann das heute noch erleben, in den Tänzen und der Musik, welche die Aufführungen von Transformations-Masken verschiedener Indianerstämme an der kanadischen Westküste begleiten. Eine solche Klappmaske vermag mehrfach die Verwandlung eines Tänzers in verschiedene Menschen oder heilige Tiere (Seeadler, Bär, Wal, Frosch) zu demonstrieren.

Und nicht zuletzt wäre nun die religiöse Dimension solcher Verwandlungen zu nennen. Denken Sie an das christliche Abendmahl und die katholische Transsubstantiationslehre – nehmet hin und esset… nehmet hin und trinket – die symbolische Wandlung der Hostie und des Weines in Christi Fleisch und Blut. Das ist ein quasi-kannibalischer Akt des „Gott-Essens“, wie ihn viele Religionen kennen, der symbolischen Aufnahme von Teilen Gottes, um selbst wie er oder zumindest ein besserer Mensch zu werden.

Der Verwandlung an sich wohnt ja immer ein Moment von Zauber, von Magie inne. Da geschieht etwas, das rational nicht erklärbar ist. Gregor Samsa nimmt es als Fakt und versucht sich damit zu arrangieren. Der innengesteuerte Prozess vollzieht sich jedoch, und die Künstlerin macht sich daran, Stadien des Unerklärlichen im Bild einzufangen, gleichsam einzufrieren.

Der Zauber muss allerdings keineswegs gut, schön oder „bezaubernd“ sein. Schon Shakespeare wusste um „schwarze“ und „weiße“ Magie. Im Käfer-Kerker der schwarzen Magie zerzweifelt Samsa / Kafka sich selbst, bis er schließlich alle Fühler von sich streckt und zum braunen Fleck ausblutet. Wenn jemand sich bis zum Tode selbst verzehrt, nennt man das medizinisch auch „Auto-Kannibalismus“. Die im 19.Jhdt. „Schwindsucht“ genannte Tbc ist wie die Magersucht solch eine Krankheit. Sie beginnt, Kafka vollends von innen aufzuzehren, nachdem er den Brief an den Vater verfasst hat. Er stirbt 1924 in einem kleinen Krankenhaus bei Wien.

  1. Zurück zu Marianne Demmer und Kafka

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich viele bildende Künstler Erzählungen oder Romanen Franz Kafkas angenommen. Meist haben sie jedoch versucht, die Essenz einer Erzählung in einem einzigen Bild zu verdichten, so, wie es das heute weithin vergessene, bei Thomsens aber in Ehren gehaltene Siegerländer Original Werner Brach mit Kafkas Strafkolonie gemeistert hat.

Marianne aber zeigt uns, dass mit den Bildern und Objekten dieser Ausstellung ihre jahrelange intensive Beschäftigung mit der komplexen Psyche des um seine Identität und Menschenwürde ringenden jüdischen Schriftstellers, der zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts zählt, neuen Antrieb und Vertiefung erfahren hat.

Während Kafka mit bildstarker Erzählkunst den Käfer als minderwertiges, vernichtenswertes  Ungeziefer darstellt, so wie später die Nazis die Juden insgesamt, nimmt  Marianne Demmer den Käfer als vitalen, künstlerischen Impulsgeber.

Ausstellungen über derart intensive Interaktion zwischen Literatur und

Bildender Kunst genießen Seltenheitswert. Gewiß gibt es ein  eigenes Genre kongenialer Künstlerbücher, die literarische Texte mit eigener Handschrift bildnerisch interpretieren. Wir besitzen selbst eine ganze Reihe solch exotischer Kostbarkeiten. Marianne schafft Vergleichbares mit ebenso eigener Note. Sie bleibt am Text, setzt ihn bildnerisch und figurativ in Porträt und Szene um und öffnet mit Hilfe des Computers gleichzeitig spielerisch neue Räume der Phantasie. An ihnen läßt sie uns anregend, gedankentief, psychologisch einfühlsam, erhellend, mit Witz, Humor und Gefühl für Tragikomik teilnehmen. Zugleich zeichnen sich ihre Bilder und Figuren durch hohes handwerkliches und ästhetisches Können aus. Dafür sei ihr unser aufrichtiger und herzlicher Dank.