Wibke Müller: „Woran ich mich erinner, lässt sich nicht fassen“
Ausstellungseröffnung am Donnerstag, 7. März 2024 im Kulturbahnhof Kreuztal
So lautet der Titel der Hauptarbeit unserer Ausstellung und stellt zugleich den malerisch-praktischen Teil von Wibke Müllers Masterarbeit im Fach „Kunst als Lehramt an Gymnasien“ vom Juni 2023 an der Uni Essen dar. Als wissenschaftlich-theoretischer Teil rundet die schriftliche Arbeit „Woran ich mich erinner, lässt sich nicht fassen. Spuren des Erinnerns als Anlass für prozesshafte Malerei“ die Arbeiten zum MA als Master of Education ab. Darin taucht Wibke tief ein in Psychologie und Theorie des Vergessens, des Erinnerns und Träumens.
Wibke Müller ist die Tochter von Axel Müller, Studiendirektor und Lehrer für Kunst und Geschichte an der Gesamtschule Reichshof. Seine Ausstellung „Genug davon? Genug davon!“ haben wir ja hier im Kreuztaler Kulturbahnhof vor genau einem Jahr gezeigt. Mit Axel sind Inge und ich seit ca. 25 Jahren durch häufige Zusammenarbeit im „Kunstkabinett Hespert“ befreundet. Dass seine Tochter, die 1995 in Wiehl geboren wurde und dort 2014 Abitur gemacht hat nicht nur eine echte Oberberglerin ist, sondern zur veritablen Künstlerin heranreift weiß ich erst seit 2018. Da trafen wir uns im Haus der Familie Müller in Oberwiehl-Battringhausen, einem der 51 kleinen Orte, welche die Stadt Wiehl bilden. Dort lebt man mitten auf dem Land, zwischen Hügeln, Wiesen, Wäldern, Kuh- und Pferdeweiden. Die gesamte Region durchschnitten von der A4.
Bei jenem Treffen sah ich zum ersten Mal, welch künstlerisch kreative Tochter dieser alte Freund doch hat. Wibke konnte uns schon damals eine, für ihr jugendliches Alter überwältigende Fülle von Arbeiten zeigen. Die Kunst steckt in ihren Genen, sie kann gar nicht anders. Aber statt den Weg explorativer Experimente wie derzeit ihr Vater mit Materialien wie Papier, Karton, Schoten, Samenkapseln, wählt sie den Fortsetzungsweg des Abstraktionismus in der modernen Malerei.
Wir verabredeten die Gemeinschaftsausstellung „Landschaftsspuren“ von Vater und Tochter im Netpher Rathaus. Dort war ich derart magisch von Wibkes Hauptarbeit angezogen, dass ich sie einfach erwerben musste. Später kamen noch zwei kleine Aquarelle hinzu, die weiterhin täglich unser Auge und Herz erfreuen. Und das will etwas heißen in einem Haus, in dem ständig ca. 250 Bilder einer Vielzahl in und ausländischer Künstler hängen.
Wibke verbrachte nach dem Abitur ihr freiwilliges soziales Jahr an der Kunstakademie in Heimbach in der Eifel bei Professor Zehnder, wo auch Annette Besgen, hier im Kulturbahnhof mit ihrem Atelier beheimatet, häufig Kurse abhält. Dann studierte sie zunächst vier Semester in Gießen und entschloss sich nach dem BA schließlich zum Masterstudium in Essen, welches sie im Juni 2023 mit eben dieser Arbeit „Woran ich mich erinner, lässt sich nicht fassen“ abschloss.
Es folgte fernab von NRW ein Referendariat in Neckartenzlingen, einer kleinen Gemeinde im Kreis Esslingen, nahe Stuttgart, die Heirat mit Matthias Rongisch, Projektleiter in Stuttgart bei der „Robert-Bosch-Stiftung“, einer der größten Unternehmen verbundenen, gemeinnützigen Stiftungen in Deutschland. Heute wohnen sie in Stuttgart. Wibke arbeitete noch einige Monate als Kunstlehrerin an eben dem Gymnasium in Neckartenzlingen (6482 Einwohner), will sich jetzt aber nach einem neuen Wirkungskreis umsehen.
Soll ich noch nachtragen, dass meine Frau, Inge, im Robert-Bosch-Krankenhaus geboren ist, ich in Stuttgart am ehrwürdigen Karls-Gymnasium und Inge ebenfalls in Stuttgart, und zwar am Mörike-Gymnasium, Abitur gemacht haben und ich des Öfteren in meinen Arbeitsleben mit der Robert-Bosch-Stiftung Kontakt hatte?
So weit zu Biografie und Werdegang, nun etwas näher zu den hier ausgestellten Arbeiten. Neben dem Masterbild ist dies im Format 400 x 200 cm die zehnteilige Serie „Dream Bubbles“ von 2021 in den Formaten 24 x 30 und 30 x 40 cm. Wibke hat ihnen als Motto ein Zitat des Romantikers Novalis vorangestellt: „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt.“ Damit erklärt sie nicht nur sich selbst zur modernen Romantikerin, sondern verweist auch auf die identitätsbildende Wechselwirkung von Schlaf, Traum, Erinnerung und den uns ebenfalls allen geläufigen Tagträumen.
Die Hälfte der „Dream Bubbles“ hängt zurzeit noch in einer Ausstellung im Kunstkabinett Hespert, dafür aber hat Wibke noch 35 Bilder einer kleinformatigen Serie von hundert Tagesbildern nach Kreuztal mitgebracht, die eine farbenprächtige, einfallsreiche Erweiterung und Ergänzung der vorgenannten Bilder ergeben die junge Künstlerin nennt diese Serie ihre „One Hundred Day Challenge“. Eine Herausforderung (challenge) bedeutet es in der Tat, hundert Tage lang jeden Tag ein Bild zu malen und sich dabei nicht zu wiederholen. Hundert Tage jeden Tag ein Bild im Wechsel von Stimmungslagen, Wetter, Licht und anderen Tageseinflüssen. Sie stellen Wibkes Einfalls-, Kompositions- und Farbreichtum unter Beweis. Die hundert kleinen Bilder haben so etwas von leichtathletischem Training an sich. Kurzstreckenläufe, aber jeden Tag mit vollem Einsatz. Sie zeugen von träumerischer Fantasie, dem Spiel mit einer Vielfalt von Farben, Lust am Gestalten auf jeweils eng begrenztem Raum, aber auch von hoher Arbeitsdisziplin.
Für mich, und hoffentlich auch für Sie, ist es höchst aufschlussreich zu sehen, wie sich die 2018 noch im gewissen Maße heimatlich im schönen Oberbergischen, wenn auch nicht platt realistische, sondern noch erkennbar, aber schon auf den Weg zur Abstraktion befindliche „Landschafterin“ Wibke in den „Dream Bubbles“ weiterentwickelt hat. Sie ist experimenteller und abstrakter und farbpsychologisch wunderbar ausdeutbar geworden. Ihre Bilder sind für den Beobachter nicht nur eine Augenweide, sondern auch intellektuell anregend.
Da sehen wir rollende Hügel, Flüsse, Seen, Wälder, Andeutungen kleiner Dörfer und Gehöfte, Himmel und Erde, spielerisch und sinnlich in Farbe gebändigte und gestaltete Natur. Wibke ist ausgesprochen fantasievoll und narrativ in diesen „Traumblasen, -bläschen, bubbles“.
Von Bild zu Bild wechselnde Leitfarben bestimmen jedes der zehn kleinen Gemälde. Die Farbpsychologie beschäftigt sich ja mit der Wirkung von Farben auf den Betrachter, auf seinen Gemütszustand, seine Gedanken und Gefühle. Dabei haben, wie wir alle wissen, Farben in unterschiedlichen Kulturen und Religionen unterschiedliche Bedeutung. Die zehn kleinen Gemälde Wibkes werden von jeweils ein oder zwei Leitfarben dominiert. Wibke sagt auf meine Nachfrage, dass sie in Farben sieht, denkt, fühlt, ja sogar träumt und sich erinnert. Die meisten von uns, jeder schaue da mal in sich selbst hinein, träumen ja in Schwarz-Weiß, während das Erinnern häufiger Farben in sich schließt.
Dabei ist Rot die Farbe der großen Gefühle, von Liebe, Leidenschaft und Lebenskraft. Gelb steht für eine Welt voller Helligkeit, Leichtigkeit, Frohsinn, Energie und Jugend. Orange, denken sie z.B. an die Werbung, deren Strategen nichts ohne Absicht tun, wirkt motivierend, laut, fröhlich, kaufanlockend.
Grün steht für Wachstum, Gedeihen, Natürlichkeit und Fruchtbarkeit, für pflanzliches Leben, wirkt heilend und optimistisch lebensbejahend.
Blau, Wibkes Lieblingsfarbe in verschiedensten Varianten und Schattierungen, steht für Wasser, Himmel, Friedlichkeit, aber in bestimmten dunkleren Abtönungen, auch für Naturverbundenheit, Ruhe und Einsamkeit.
Wibke lässt sich nicht auf eine Farbe festlegen. Sie probiert in dieser Zehnerserie alle Leitfarben aus, was Offenheit, Frische und jugendlichen Experimentiergeist bezeugt, zugleich aber auch Nachdenklichkeit, Zurückhaltung, manchmal ein wenig Schwermut.
Ein ganz anderes Thema sind die Reise-Reminiszenzen und Natur-Erinnerungen, die Wibke bei sich selbst wachruft und zu denen sie uns Betrachter jeweils individuell anregt. In den Traumlandschaften von Wibkes „Dream Bubbles“ finden sich ja auf jedem Bild fingerartige Streifen, die jeweils anders von rechts, links, oben, unten, mittig ins Bild hineinragen und hineingreifen. Auf Anfrage sagt Wibke dazu: „Sie sind intuitiv entstanden und beschreiben für mich so etwas wie eine Anordnung von Horizontlinien, da im Traum ja vorne und hinten, oder auch einzelne Konturen oder Horizontlinien verschwimmen und scheinbar in einem schwerelosen Raum sich immer wieder neu zusammensetzen.“
Wenden wir uns nun einer Besprechung des Hauptwerkes unserer Ausstellung „Woran ich mich erinner, kann ich nicht fassen“ zu. Wibke, so sehen wir, ist zugleich poetisch, narrativ, und theoretisch reflexiv veranlagt und geht in diesem Werk auch so vor.
Das ruft im Anglisten und Amerikanisten in mir eines der berühmtesten Zitate der Weltliteratur wach, dass die meisten von ihnen kennen werden, wenn nämlich Hamlet in der fünften Szene des ersten Akts im gleichnamigen Shakespeare-Drama zu seinem Freund Horatio sagt: „There are more things in heaven and earth, Horatio, than you dreamt of in your philosophy“; wobei philosophy zugleich für Philosophie als Mutter aller Geisteswissenschaften, aber im frühen 17. Jahrhundert auch für Naturwissenschaften, für Wissenschaft insgesamt, steht. Und weiter geht das Zitat: „…to die, to sleep, to sleep.” Und im Tempest sagt Prospero: “We are such stuff as dreams are made of, and our little life is rounded with a sleep.”
Für Wibkes Werk ist das ein Volltreffer, denn das Träumen, Vergessen und Erinnern sind Kernthemen ihrer künstlerischen Arbeit. Dabei versucht sie das, was sich nicht mehr konkret packen lassen kann, das Erinnern, konstruktiv zu neuem ästhetischem Leben und damit im Werk zu andauernder Gegenwart zu wecken.
Träumen, Vergessen, Erinnern sind ja virtuelle Bestandteile eines jeden menschlichen Lebens, sie machen einen guten Teil unseres sinnvollen Lebens aus. So versucht sich Wibke an dem Paradox, das, was nicht zu fassen ist, doch zu konkretisieren, indem sie sich zu künstlerischer Gestaltung anregen lässt, es im Werk mit Leben füllt. Da sie das Gedächtnis und die Erinnerung als netzartige Struktur mit vielen Verästelungen unter- und zueinander begreift, bearbeitet sie in diesem und vielen anderen Fällen die am Boden liegende Leinwand, die später in einen Keilrahmen gespannt wird, in zahlreichen Arbeitsdurchläufen mit Acrylfarbe mit langen, kurzen, breiten und schmalen Pinseln, mit Pinselstrich-Spuren, und wechselt mit dem Einschreiben von grafischen Linien, zeichnerischen Elementen mit Buntstift und Kreide. „Drawing is the thinking of painting“ sagt Cy Twombly, einer ihrer berühmten, auch im Siegener Museum für Gegenwartskunst vertretenen, Vorbilder.
Dabei kommt es zu stetigen Übermalungen, Überlagerungen, Überschreibungen, ähnlich wie wir es vorletztes Jahr bei Bruno Obermann gesehen haben, benutzt sie dabei die sogenannte „Soak-Stain-Technik“. Das heißt, die Malfläche wird auf einen Tisch oder den Boden gelegt. Da die Farbe mit Wasser verdünnt wird, zieht die Schwerkraft die Farbe nach unten und lässt sie tropfen, wenn sie vertikal aufgetragen wird.
Pinselstriche, der Gestus des Pinsels, mal dicker, mal schmaler, halten Spuren dessen fest, was längst vergangen ist. Sie existieren und wirken dennoch ungreifbar, sagt Wibke. „Sie lassen uns rätseln, verraten nicht, was ich gesehen und erlebt habe, das, was mein Erinnerungsbild hergibt.“
Für den Betrachter ergeben sich Assoziationen aus den Farben, den Strichbündeln, die seine Blickrichtung lenken, seine eigene poetische und ästhetische Vorstellungskraft anregen. Dazu gehört auch die dem Bild immanente Bewegungsstruktur. So kommt es beim Betrachter zu einem assoziativen Vorstellungsbild, welches das uralte Thema vom Leben als Traum aufnimmt. In der Renaissance finden wir es unter Literaturstars neben Shakespeare auch beim Spanier Calderon in seinen berühmten Stück „La vida el sueno“, Das Leben ein Traum. Er, und in der Folge viele andere, diskutieren die Frage, ob unser Leben echt oder eigentlich doch nur ein Traum ist. Aber wer träumt dann diesen Traum?
Edgar Allan Poe, einer der Erfinder des Kriminalromans versteigt sich 1849, kurz vor seinem Tod, in einem seiner letzten Gedichte, sogar zu der Behauptung und Frage an Gott: „O God“ … Is all that we see or seem, but a dream within a dream?”
Nein, sagt Wibke. Und in insgesamt achtwöchigen Malprozessen ringt sie ihren Erinnerungen ein großes Bild ab, welches auf vier je 100 cm breiten und 200 cm hohen Tafeln eine kontrollierte Farbfülle sich zu einem Meisterbild verdichtet, auf dem wir stürzende Wasserfälle, Landschaftsspuren von Berg und Tal, Himmel, Erde sowie verschiedene Gefühls- und Stimmungslagen wahrnehmen können, oder auch nicht. Insgesamt nehmen wir aber in unserer eigenen Erinnerung einen bleibenden Eindruck mit, der uns selbst anregen mag, darüber nachzudenken, ob und wie sich fassen lässt, was wir so erinnern. Und was stellen wir damit an? Wirken die Bildeindrücke auf unsere Gegenwart?
Es bleibt die Gewissheit, hier hat eine junge Künstlerin ihr Meisterstück geliefert. Ihr als Lehrerin können wir Kinder anvertrauen, die sie zu eigenem Gestalten sensibilisiert und anleitet.