Ausstellung „DIETER OTTEN: ABEND LAND“, Rathaus und Steuerbüro Friedrich, Netphen

Christian W. Thomsen

DIETER OTTEN: ABEND LAND

Am Düsseldorfer Rosenmontagszug nahm in diesem Jahr zum zweiten Mal ein Wagen mit dem Namen Orient- / Occident-Express teil, bestückt mit Geistlichen der beiden großen christlichen Religionen sowie einem jüdischen Rabbi und einem islamischen Imam. Damit sollte ein humorvolles Zeichen zur friedlichen Zusammenarbeit zwischen den Religionen gesetzt werden.

Heute eröffnen wir nun Dieter Ottens bildstarke Inszenierung des Netpher Rathauses unter dem beziehungsreichen Titel „Abend Land“ mit zahlreichen gegenständlichen Bildern aus neuester Zeit, während gegenüber im Steuerbüro Friedrich eine Werkschau mit älteren Arbeiten ebenfalls Ihrer Besichtigung empfohlen sei.

Der 1950 in Essen geborene Dieter Otten betrieb als Werbe- und Modefotograf nach Abschluss seiner Fotografenausbildung von Mitte bis Ende der 70er-Jahre erfolgreich ein Studio in Düsseldorf. Mit Beginn der 80er-Jahre wechselte er ins Bergische, arbeitete dort weiter an Markenkonzeptionen und Markenbildern verschiedener Firmen. Seit 1989 wirkt er als freischaffender Künstler in Gummersbach und seit 2010 auch als Dozent für Fotografie und Neue Medien an der internationalen Kunstakademie Burg Heimbach in der Eifel.

Er bezeichnet seine aus Bildeinfällen, Beobachtungen und fotografischen Fundstücken weitgehend mit dem Computer komponierte Kunst, bei der echte Pinsel dem Computerpinsel immer wieder nachhelfen, als fotografische Malerei. Dabei ist seine figurative, in den meisten Fällen auf der Fotografie aufbauende Bildsprache außerordentlich variantenreich. Die in unserer Ausstellung präsentierten Bilder nennt er „Beobachtungen“ zu einer Zeit, in einem Land, in dem es „Abend“ wird. Dabei trennt Otten bewusst den uns allen geläufigen Ausdruck „Abendland“ in die zwei Worte „Abend“ und „Land“.

Die unzweifelhafte Verbindung zwischen atmosphärischem Bildeindruck und zunächst geografischem Begriff setzt schillernde Assoziationsketten und Spielräume für unsere Fantasie frei. In ihnen fließen Geschichte und Gegenwart ineinander und rufen zunächst nach einer Begriffserklärung. Schon der Düsseldorfer Karnevalswagen spielt ja auf Mehrdeutigkeiten an die aus der geografischen Bezeichnung für Sonnenaufgang = Osten und Sonnenuntergang = Westen entstanden sind und sich allmählich zu kulturellen politischen und religiösen Gegenbegriffen entwickelten, der deutsche Begriff „Abendland“ u. a. zum anti-islamischen Kampfbegriff.

Gemeint ist mit Abendland ursprünglich der westliche Teil Europas, besonders Deutschland, England, Frankreich, Italien und die iberische Halbinsel. Der Begriff Abendland ergab sich aus der antiken und mittelalterlichen Vorstellung von Europa als dem westlichen, der untergehenden Abendsonne am nächsten gelegene Erdteil. Der ihm entsprechende Gegenbegriff ist das griechisch-orthodox und islamisch geprägte Morgenland oder der Orient. Seit der Romantik um Novalis und die Gebrüder Schlegel entwickelte sich im deutschsprachigen Raum eine besondere Traditionslinie um den Abendlandbegriff. Sie fand einen letzten Höhepunkt in einer regelrechten Abendland-Ideologie der 1950er Jahre unter Konrad Adenauer. In Zeiten des Kalten Krieges wurde der Begriff teils übereinstimmend mit dem Begriff der „Westlichen Welt“ verwendet. Das bezeichnet vor allem die alten Mitgliedsländer der Europäischen Union und Nordamerika. Der unpräzise, frömmelnde und weitgehend fiktive Begriff vom „Christlichen Abendland“ wird als Gegenbegriff zum muslimischen Morgenland gern bis auf Karl den Großen als Stifter einer gemeinsamen westeuropäischen Kultur- und Werte-Gemeinschaft zurückgeführt.

Mohammed starb 632 und die von ihm gestiftete neue Religion des Islam entwickelte bald gewaltigen Expansionsdrang.

Nur ein Jahrhundert nach dem Tod des Propheten erstreckte sich der muslimisch-arabische Einfluss und Herrschaftsanspruch von der iberischen Halbinsel und Südfrankreich im Westen bis nach Pakistan im Osten. Auch Jerusalem und seine für Juden, Christen und Muslime gleichermaßen bedeutenden Wallfahrtsorte bleiben für mehrere Jahrhunderte unter muslimischem Einfluss und Herrschaft. Mitte des 11. Jahrhunderts werden die Pilgerfahrten ins „Heilige Land“ erschwert. Die Seldschuken, ein aggressiver türkischer Volksstamm, haben Jerusalem unter ihre Herrschaft gebracht.

Das bewegt 1095 Papst Urban II. zum Handeln. Er ruft 1095 den „Heiligen Krieg“ und damit den ersten Kreuzzug aus, dem bis 1270 neun weitere folgen sollten, die eine Schleppe von Verwüstungen, Vergewaltigungen, Blutbädern und Zerstörungen nach sich ziehen, meist aber nur kurzfristig christliche Herrschaft über Jerusalem bewirken.

Doch bringen die Kreuzzüge auch positive Auswirkungen von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das europäische Kulturleben. Durch zurückkehrende Kreuzritter gelangt die westliche Welt in Berührung mit der orientalischen Geisteswelt und Lebenskultur. Exotische Gewürze und Früchte werden in Europa ebenso bekannt wie das arabische Zahlensystem, das wir alle bis heute benutzen.

Bei vielen Besichtigungen von Burgen und Schlössern in verschiedenen Ländern habe ich kostbare Teppiche, Wandbehänge zum Wärmen kalter Burgmauern, edles Porzellan und Gefäße gesehen, unter denen stand: „Von Kreuzrittern aus dem Orient mitgebracht.“ Dass es meist Kriegsbeute war, an der vermutlich oft Blut klebte, stand nicht dabei.

Die beiden Belagerungen von Wien durch türkische Heere 1529 und 1683 taten ein Übriges, um Islam- und Türkenfurcht in Westeuropa zu schüren.

Der antidemokratische Kulturphilosoph und Gymnasial-Lehrer Oswald Spengler setzte mit seiner, sieben Hochkulturen vergleichenden zyklischen Kulturgeschichte Der Untergang des Abendlandes (1922 und 1925) eine Sprechblase in die Welt, derer sich bis heute Kulturkritiker und Untergangspropheten verschiedenster Couleur bedienen.

Seit einigen Jahren sind es die Dresdner Schreihälse unter dem Namen „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA), die diesen Begriff auf ihre Fahnen geschrieben haben. Weder haben sie von Europa, noch vom Islam, noch von der kulturellen und religiösen Idee des Abendlandes viel Ahnung, sondern sie predigen unter diesem Deckmantel Nationalismus, Fremdenhass und Ausgrenzung.

In zahlreichen Bildern Dieter Ottens schwingt die schillernde Bedeutungsvielfalt des Abendland- Begriffs mit und verbindet sich mit Denkanstößen zu der von ihm äußerst gefährdet gesehenen Gesellschaft, ihrer Kultur und Religion Deutschlands, Westeuropas und den USA.

Werfen wir unter diesen Auspizien zunächst einige Blicke auf das Titelbild unserer Ausstellung „Abend Land“. Dunkle Wolken ballen sich über der Stadt mit dem großen Dom, Köln, stellvertretend für alle Domstädte. Nichts ist da zu sehen vom lebenslustigen rheinischen Religions- und Karnevalsleben, kein Licht erhellt die Düsternis. Im Gegenteil, was ich zunächst für dunkle Häuserreihen neben dem Dom hielt, sind Reihen bösartig zuschnapp-bereiter Gebisse.

Die Auslöser für solch ein Bild sind klar. Am 5. Februar 2020 sind die neuesten Zahlen auf den Tisch gekommen. Im Jahr 2019 haben, allein in NRW, 133.700 Menschen den beiden großen christlichen Konfessionen den Rücken gekehrt, Tendenz weiter steigend, dementsprechend die Planungen der Kirchen für das nächste Jahrzehnt. Die Gründe liegen in den weiterhin nur ansatzweise aufgeklärten Missbrauchsskandalen, tiefer liegend in weiterhin mittelalterlichen und feudal-aristokratischen Gottesbildern, kaum angekratzter Herrschaft Jahrtausende alten Patriarchats und damit einhergehend die Abstufung des weiblichen Geschlechts zu Menschen zweiter Klasse. Als Rechtfertigung hierfür, mit Bezug auf den angeblichen Sündenfall lautet das Schlagwort im Englischen: „Eve started it all“.

Luther und die Reformation haben, was den Protestantismus angeht, zwar mit dem widernatürlichen Zölibat und der schlimmsten Frauenbenachteiligung aufgeräumt, aber auch er war z. B. Zeit seines Lebens ein glühender Judenhasser. Ralph Giordano zufolge gehört das hierzulande populäre Gerede vom gemeinsamen christlich-jüdischen Kulturkreis allein zum postnationalsozialistischen „Wiedergutmachungs-Vokabular“. Erstaunlich dennoch, dass die Austrittszahlen für beide Kirchen über die letzten zehn Jahre nahezu identisch sind. Der Verlust an Glaubwürdigkeit und Vertrauen gilt demnach beiden.

Dunkle Wolken also über die christlichen Haupt-Religionsrichtungen. Dass die katholische Kirche ihrer Verfasstheit nach eine absolutistische Monarchie ist, in der allein Bischöfe, Kardinäle und der Papst das Sagen haben, zeigte sich erneut schon am ersten Tag des mit so viel „Grass-Roots“- Engagement und Enthusiasmus gestarteten „synodalen Weges“. Er wurde von Kardinal Woelki allsogleich als „protestantisches Kirchenparlament“ abgebügelt, Insidern zufolge haben jegliche Veränderungswünsche aus Deutschland in der römischen Kurie nicht die geringste Chance zur Verwirklichung.

Wenden wir uns nun dem vielleicht eindrücklichsten Hingucker dieser Ausstellung zu, einem Bild, das echten „Wow-Effekt“ auslöst, im gerade gängigen Jargon ein „Hammer-Bild“, das den Betrachter richtig „flashen“ kann.

Darauf hängt an rotem Seidenfaden aus der Mitte eines überwölbenden dunklen Buches ein schimmerndes Senkblei, das sich drohend über weite Landschaft und in den Wolken angedeutete Länder und Kontinente senkt. Am Boden krümmt sich hilflos auf dem Rücken liegend das Unheil ahnend, ein mickriger kleiner Käfer, daneben Schriftfragmente und Daten: Hamburg, München, also Norden und Süden Deutschlands. Insektensterben heißt à la longue auch Menschensterben. Als Titel darunter MENE TEKEL, 2018.

Vermutlich kennt jeder von Ihnen das umgangssprachliche Wort Menetekel als unheilverkündende Warnung, ernsten Mahnruf, Vorzeichen drohenden Unheils. Abgeleitet ist es von einem alttestamentarischen Wortspiel in akkadischer Sprache, das Gott dem babylonischen König Belsazar als Ankündigung seines baldigen Todes und Untergangs überbracht haben soll.

Im Buch Daniel wird geschildert, wie Belsazar, Sohn des Königs Nebukadnezar, in Babylon ein großes Besäufnis mit aus Jerusalem geraubten Kelchen und Pokalen abhält und dabei seine Götter preist.

Auf einmal, wie eine moderne Computeranimation, erscheint eine geisterartige Hand ohne Finger und schreibt fremdartige Worte an die Wand: „mene mene tekel ŭ parsin“ – „gezählt, gewogen, geteilt“ und zu leicht befunden“, heute Inbegriff drohenden Unheils, dunkler Vorahnung eines Zerstörung bringenden Schicksals, das letztlich nicht abwendbar ist.

Das aus dem Alten Testament sich herabsenkende Senkblei auf Dieter Ottens Bild wirkt demnach wie eine Abrissbirne, die drohend über Gesellschaft, Kultur und Religionen des Westens schwebt, bereit, diese zu zermalmen. Wenn das wirklich Ottens alleinige Zukunftsprognose wäre, dann „gute Nacht“. Doch der

Zustand deutscher Innenpolitik zu Beginn des Jahres 2020 deutet zweifellos in Ottens Richtung, meiner Überzeugung nach gibt es aber auch viele positive Ansätze, vor allem aus der jungen Generation. Otten hofft zumindest auf einen neuen Morgen, deutet Horizonte und Perspektiven an. Sie auszufüllen wird zur gesamtgesellschaftlichen Gegenwarts-und Zukunftsaufgabe.

Ich bin habilitierter Anglist und Amerikanist. Innerhalb weniger Tage habe ich den Brexit als Stich in mein anglophiles Herz, die vor Selbstüberheblichkeit und Verhöhnung aller Werte der amerikanischen Verfassung strotzende „State oft he Nation“- Rede von Donald Trump und die AfD- herbeimanipulierte Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten erfahren und ich blicke wieder auf Dieters Bild: „mene mene tekel ŭ parsin“!

Alles Fehlverhalten hat Folgen. Vor global vernetztem Hintergrund zeigt symbolbeladen das Bild Quo Vadis? (2019) den ganz großen Crash in „many shades of grey“. Gehen Sie darin selbst mit ihren Augen auf Entdeckungsreisen und Sie werden vielfach fündig.

Mich erinnerte das Bild zunächst an die amerikanische Pop Art der 60er- und 70er-Jahre, Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Tom Wesselmann, Jasper Johns, Robert Rauschenberg und all die anderen, über die ich dann in den Achtzigern und Neunzigern vielbesuchte Seminare abgehalten habe. Ein ganzes Regal voller Pop Art-Bücher nennen wir unser Eigen. Und mit Vergnügen habe ich die prachtvollen Katalogbände der großen Pop-Art-Ausstellungen in Köln und New York hervorgeholt und alte Bekannte angeschaut, die damals heiß umkämpfte Avantgarde waren, mittlerweile zu Klassikern geworden sind.

Andy Warhols berühmte, serielle „Car Crash”- und “Ambulance Disaster”-Bilder, seine Freiheitsstatuen und Totenschädel, sie atmen doch ästhetisch, gesellschaftssymbolisch und dokumentarisch-faktisch einen ganz anderen Geist als Dieter Ottens wahrhaft apokalyptisches Bild von einer global vernetzten Welt, die mit ihren Produkten zum Notfall geworden ist.

Wer unter ihnen das „Große Latinum“ hat, sollte noch wissen, was lateinisch „arcanum“ bedeutet: das Geheimnis, geheimes Ritual oder Geheimwissen, von arcanus = geheim. Nicht zu wissen braucht er oder sie, was die „Arcana“ sind, nämlich die päpstlichen Geheim- und Privatarchive im Vatikan, in denen auf 85 Regalkilometern, also einer Strecke von Netphen bis kurz vor Köln, alles aufbewahrt wird, was die Päpste innerhalb der letzten 400 Jahre vor den Augen der Öffentlichkeit geheim halten wollten.

Manches ist ja dann doch herausgekommen, so etwa, dass die Vatikan-Bank jahrzehntelang zu den größten Geldwäschereien der Welt gehörte oder, wo es in Netphen einen Sankt-Peters-Platz gibt, dass der – wie alljährlich – für die Armen gesammelte „Peter- und Paul-Pfennig“ (Cent) 2019 insgesamt 434 Millionen Dollar einbrachte, die dann in Londoner Luxus-Immobilien investiert wurden. Da ich zwei Jahre am University College London studiert habe, kenne ich deren Standort genau: Super-Wohnlage. Da lässt sich als Kardinal inkognito prima Urlaub machen, und man muss nicht jene Männer-Bordelle besuchen, die wie ein Kranz den Vatikan umgeben. So ein deutscher Radio-Journalist, der lange Jahre in Rom und speziell beim Vatikan akkreditiert war.

Dieter Ottens ungemein vieldeutig dunkel-malerisches Bild Lux in Arcana aber lässt sich, mit oder ohne Dieters Vorwissen, auf die Ausstellung gleichen Titels in den kapitolinischen Museen in Rom beziehen, auf der 2012 zum ersten Mal 100 Geheimakten aus den päpstlichen Privatarchiven außerordentlich eindrucksvoll inszeniert und präsentiert wurden. Ich empfehle Ihnen nachdrücklich die diesbezüglichen Bildserien im Internet.

Mich aber interessieren insbesondere zwei Akten, nämlich die über den Inquisitionsprozess von 1633 zu Galileo Galilei und schon von 1521 die päpstliche Bannbulle und die Akten des Wormser Reichstagsprozesses über Martin Luther, auf dem er für vogelfrei erklärt wurde.

Galilei, der damals berühmteste Wissenschaftler Italiens, entkam nur deshalb knapp der Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen der Inquisition, weil er seine Fehler eingestand und alles, was er je geforscht und veröffentlich hatte, verfluchte und verabscheute. Er wurde „nur“ zu lebenslanger Kerkerhaft, verurteilt, die allerdings nach sechs Monaten in Hausarrest auf seinem Landgut umgewandelt wurde. Er durfte aber lebenslang nicht mehr lehren und nichts publizieren.

1757 erklärte die katholische Kirche dann zwar, dass sie sich in Galileis Fall geirrt habe, aber es dauerte noch bis 1992 , bis der Vatikan unter dem Papsttum des polnischen Papstes Karol Wojtyla alias Johannes-Paul II. Galilei rehabilitierte und damit anerkannte, dass die Erde keine Scheibe ist, sondern sich als Kugel um die Sonne bewegt und nicht umgekehrt.

Ganz anders Luther,100 Jahre früher und noch ein vehementer Gegner des heliozentrischen Weltsystems, der andererseits schon 1517 wortgewaltig der päpstlichen Bulle entgegendonnerte: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.“ Auf dem Reichstag zu Worms weigert sich Luther zu widerrufen, wird in Reichsacht genommen, für vogelfrei erklärt und schließlich vom sächsischen Kurfürst Friedrich dem Weisen auf die Wartburg entführt, wo er das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt.

„Da … mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, ich kann und will nicht widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.“

Soweit ein wenig zu möglichen Hintergründen von Dieter Ottens Lux in Arcana-Bild. Dunkle Farbtöne beherrschen es, in Schwarz, Braun, Blau und Mischfarben. Im Zentrum eine uterine Höhlenöffnung, hellgelber Lichtschein umgibt sie. Man muss sich mit dem Auge richtig ins Bild hinein vertiefen, dann erblickt man immer mehr menschliche Figuren oder deren Fragmente. Augen gehören ohnehin zu Ottens Hauptmotiven in vielen seiner Bilder. Unzählige Vögel flattern quer durchs Bild, vielleicht Symbol der freigelassenen Geheimnisse und Gedanken. Papierschiffe laufen auf imaginäres Ufer, Telegraphendrähte als Symbole von Kommunikation durchqueren das Bild. Dennoch bleibt vieles rätselhaft, geheimnisumwittert. Allzu viel Licht drängt nicht in die Arcana. Und das stimmt denn auch mit der Realität überein.

Persönlich haben es mir vor allem die drei Bilder aus Ottens Odyssee-Serie angetan, besonders Fotografie-affine Bilder in leuchtenden Farben, weniger kulturpessimistisch als viele andere. Odysseus, der Macher, Odysseus einer der ersten Westeuropäer, kämpferisch, tapfer vorwärtsdrängend, Reisender und Entdecker, Umsegler der antiken Welt, aber auch rücksichtslos und schlau. „Polymätes Odysseus“, „der viellistige Odysseus“ wird er in Homers Odyssee immer wieder genannt.

Da ich mich für den Radelnden Keiler vor Netphens Altem Rathaus für schuldig erkläre, lag mir daran, dass Dieter zwei Bilder mit Fahrrädern in diese Ausstellung einbezog. Obwohl ich sturzbedingt an Krücken und Rollator gebunden bin, plädiere ich für das Radfahren, ja auch ein Radrennen in und um Netphen herum. Schließlich habe ich eine Schwiegertochter, die ihrem Broterwerb an der Düsseldorfer Uniklinik in der Erforschung neuer Medikamente gegen bösartige Hirntumore nachgeht und deren Ausgleich in ihrer internationalen Radrennfahrer-Lizenz besteht. Deshalb trainiert sie am liebsten auf wahren Rad-Odysseen im Netpherland, 70 bis 90 km an einem Sonntagmorgen, bergauf, bergab. Dann zeigt sie mir mit ihrem GPS, wo sie alles gewesen ist.

Fahrräder als ökologiefreundliche Symbole des Fortschritts, der Bewegung, des Verkehrs. Ein Wermutstropfen allerdings: auf dem Bild mit den vielen Rädern werden die Pedale von schwarzen Füßen getreten. Es ist wie so oft. Die armen Schweine müssen die Räder des Kapitalismus in Bewegung halten. Mein Lieblingsbild dieser Serie hängt, vielfarbig, Blüten wie Fische assoziierend, im Durchgang . Es erinnert mich an die Lotophagen – Episode in der Odyssee.  Diese Inselbewohner pflegen eine besondere Willkommenskultur. Sie empfangen Fremde mit offenen Armen, geben ihnen Lotusfrüchte zu essen, woraufhin die Besucher ihr Gedächtnis verlieren und nie wieder fort wollen.

Homers Nachfolger in der erweiterten Gegenwart ist der Ire James Joyce, dessen Roman Ulysses (1922) richtungsweisend für die Entwicklung des modernen Romans geworden ist. In 18 Episoden an einem Tag, dem 16. Juni 1904, im Leben des Dubliner Zeitungsaquisiteurs Leopold Bloom, wird dessen innere und äußere Odyssee durch seine Heimatstadt geschildert. Assoziationen, Vorstellungen, Gedanken und Erinnerungsfetzen des Protagonisten und insbesondere der Bewusstseinsstrom als zentrales Gestaltungselement prägen diesen Roman. Sprache wird ungeordnet verwendet, kein linearer Sprachstrom, Worte und Sätze bleiben oft unvollendet. Themen können sich mitten im Satz ändern, Geräusche aus der Außenwelt gelangen in Blooms Bewusstsein, frei fließende Assoziationen, Gedankeninhalte verschiedener Personen gehen ineinander über.

Im übertragenen Sinne lassen sich zahlreiche dieser Stilelemente in den komplexen Bildern Dieter Ottens wie dem Unfallbild Quo Vadis? (2019) nachweisen. Der Computer hat solche Techniken in Ottens „Fotomalerei“ erst möglich gemacht.

Nehmen wir zum guten Schluss das Bild mit dem gleichen Titel auf Deutsch, nämlich Wohin? (2019) Eine schöne Frau inmitten von Architektur- und Stadtfragmenten, drum herum undurchdringliches Menschengewimmel: Eine junge Frau macht sich auf dem Fahrrad davon.

Erst dachte ich: „Hat der Dieter sich mit diesem ganzen Farbenspektrum der Mona Lisa angenommen?“ Bei näherem Hinsehen sah ich, nein, das ist nicht Mona Lisa. Aber wer? Und dann wurde ich am Bildrand der Zahlen gewahr und schemenhaft des Düsseldorfer Stadttors und Schlossturms. Dann klingelte es im Gehirn. Das ist ja der alte 100 DM-Schein und die abgebildete Frau Clara Schumann auf einer der letzten Ausgaben dieser Banknote. Ob Dieter sich dessen bewusst war, ist mir nicht klar. Ich aber habe mich mächtig gefreut. Denn 2019, das Jahr ihres 200. Geburtstages, war „Clara-Schumann-Jahr“ mit zahlreichen Clara-Schumann-Konzerten, Ausstellungen und Gedenkwochen, vor allem in Leipzig, ihrer Geburtsstadt.

Clara Schumann ist unstreitig eine der großartigsten Frauen des 19. Jahrhunderts. Schon mit 9 Jahren als pianistisches Wunderkind von ihrem Vater gepusht und vom Publikum gefeiert, heiratete sie mit 21 den Komponisten Robert Schumann. Dem gebar sie in 14 Jahren, deren letzten beide er schwer depressiv und Syphilis-geplagt in der Endenicher Nervenheilanstalt verbrachte, in 10 Schwangerschaften 8 Kinder, von denen drei Töchter steinalt, bis in die hohen 80er, wurden. Mit ihren Kompositionen, vor allem aber unzähligen Konzerten auf ebenso unzähligen Reisen ernährte sie ihre große Familie. Die Kinder wurden jeweils Ammen übergeben. Obwohl sie es war, die die Familie finanziell über Wasser hielt, unterwarf sie sich künstlerisch, wie es im 19. Jahrhundert noch Sitte war, völlig dem geliebten Mann. Ihre Briefe zu lesen ist oft erschütternd.

Dieter Otten mag sein Bild mit dem Wohin-Titel als Kapitalismus- oder Euro-Kritik gemeint haben. Die läuft für mich angesichts der Person Clara Schumanns ins Leere, zumal es als regionales Freudentüpfelchen auf dem i in Kreuztal eine Clara-Schumann-Realschule gibt.

Damit möchte ich Sie in diese vielgestaltige Ausstellung entlassen und wünsche Ihnen noch viel Vergnügen in der Begegnung mit Dieter Ottens Bildern. Und lassen Sie sich nachdenklich stimmen zu den von Otten angestoßenen Themen zu Gesellschaft, unserer je eigenen Identität und dem Sinn unseres Lebens.