Ausstellung „DIETER OTTEN – Auf den Punkt…“

Dieter Otten: © Claritas Interna
Dieter Otten: © Eisberg voraus
Dieter Otten: © Heimat
Dieter Otten: © Ich mache alles neu
Dieter Otten: © Second Hand Life
Dieter Otten: © Yes, We Can

Christian W. Thomsen

DIETER OTTEN: AUF DEN PUNKT…

In Vorbereitung dieser kleinen Ausstellung mit fünf großformatigen Bildern und
einer Kehrschaufel voller Papierschnipsel wählte der 1950 in Essen geborene
Dieter Otten typische, für eine Vielzahl seiner Serien und Einzelbilder
charakteristische Werke aus, die signalhafte Einblicke in sein Schaffen von 1992
– 2017 gewähren. Sie bringen formal, ästhetisch, inhaltlich und thematisch auf
den Punkt, was ihn umtreibt. Sie legen den Finger auf diverse gesellschaftliche
Wunden, die er mit seiner „fotografischen Malerei“ entblößen, Salz in sie
streuen, sie kommentieren und zur Diskussion stellen will.
Als Fotograf ausgebildet, betrieb Otten von den 70er-Jahren bis in die späten
80er ein Studio in Düsseldorf, mit dem er durch Mode- und Werbefotografie,
mit Markendesign und Kommunikationslösungen für internationale Firmen
seinen Unterhalt verdiente. Seit 1989 findet er als freier Künstler in
Gummersbach neue Wirkungskreise und lehrt auch seit 2010 als Dozent für
Fotografie und Neue Medien an der internationalen Kunstakademie Schloss
Heimbach in der Eifel. Dort hält auch die in diesem Gebäude mit ihrem Atelier
beheimatete Künstlerin Annette Besgen mitunter Kurse.
Die Fotografie benötigte bekanntlich 100 Jahre um als museumswürdig
anerkannt zu werden. Seit den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts
vollzog sich hier gleichsam ein Dammbruch. Ebenfalls seit den 90er-Jahren
zeichnete sich ab, dass die Kunst des 21. Jahrhunderts ganz entscheidend von
neuem Medium Computer beeinflusst sein werde, mit verschiedensten
Software-Programmen neue Techniken erfinden, symbiotische Lösungen der
Verschränkungen, Durchmischungen, Überlagerungen eingehen werde. Die
daraus entstandene Digitalkunst hat mittlerweile eine Vielzahl von Facetten
ausgebildet. Im vorigen Jahr hatte ich ja hier in der Stadtbibliothek mit
Marianne Demmer eine Ausstellung zu Franz Kafkas weltberühmter Erzählung
„Die Verwandlung“. Demmer nennt ihre, wie Dieter Ottens Kunst von
Fotografien ausgehende Arbeiten, „DigiArt“, während Otten seine mit dem
Computerpinsel, teilweise auch echten Pinseln, bearbeiteten, Fotografien als
„Fotomalerei“ bezeichnet. Sie sind in der Tat „malerischer“ als die Arbeiten
Demmers. Dennoch befriedigt mich dieser Terminus nicht recht, weil er den
Anteil des neuen Mediums nicht offenlegt, obwohl Otten darin ebenso Profi ist,
wie in der Fotografie.
Wenden wir uns dem ersten Bild zu: Eine große, blendend-strahlendunschuldsweiße
Kugel auf ebenso weißem Rechteck mit dem Titel „ICH MACHE
ALLES NEU“ von 1992, das letzte Bild aus dem zwölfteiligen Zyklus „ANNO
DOMINI“, also im Jahr des Herrn. Mit der Geburt Christi beginnt ja unsere
Zeitrechnung. Drei Jahre lang hat Otten daran gearbeitet, zwölf Jesus Christus
zugeschriebene Bibelworte ins Bild zu setzen. Dieses Werk markiert den
Schluss- und Höhepunkt des Zyklus.
Wenn es einen Bibeltext gibt, den auch ich in den letzten sieben Jahrzehnten
immer wieder von neuem gelesen habe, dann ist es dieser, die „Offenbarung
des Johannes“ mit der Apokalypse, allerdings aus anderen Gründen als Dieter
Otten. Mich fasziniert die Poesie und schiere visionäre Wucht dieses Textes,
und als Architekturhistoriker interessieren mich die symbolischen
Umsetzungsversuche der Idee des „Neuen Jerusalem“ in den Türmen von
Kirchenbauten vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
Ganz anders Dieter. Als zutiefst religiöser Mensch setzt er mit seinem Glauben
voll auf Jesus Christus als den Sohn Gottes, als Retter und Erlöser der
Menschen.
Wenn er, mit missionarischer Wortgewalt voll in Fahrt gerät, dann ist Dieter
Otten kaum zu bremsen. Für ihn zählt aus dem Johannes-Evangelium 21,5 vor
allem der Satz: „Er, der auf dem Thron saß, sprach: ‚Seht, ich mache alles neu.‘
Und er sagte: ‚Schreibe es auf denn diese Worte sind zuverlässig und wahr.‘…“
Ich, der ich schon als Kind die Frage stellte, „Papa, warum hat eigentlich der
liebe Gott keine Frau?“, sehe das sehr viel skeptischer. Als Historiker weiß ich,
welches Schindluder seit 2000 Jahren aus machtpolitischen, dynastischen,
ideologischen Gründen mit diesem Wort getrieben wurde.
Kriege wurden angezettelt, Völker ins Verderben geführt, mit dem
Heilsversprechen des Neuen Menschen Kulturen vernichtet. Denken Sie an die
Kolonialkriege der Spanier in Mittel- und Südamerika, an den Neuen
Sowjetmenschen, unter dessen weißen Leichentüchern des Schweigens die
Massenmorde Stalins gerechtfertigt wurden, an die angepassten Jasager des
neuen sozialistischen Menschen in der DDR oder nur an die letzten
Wahlkämpfe bei uns, deren „Ich-mache-alles-Neu-Versprechen“ am Tag nach
der jeweiligen Wahl Schnee von gestern waren.
Doch zurück zum Bild. Kreis und Kugel werden in vielen Völkern von jeher als
Symbol des Vollkommenen, des Göttlichen, des Unendlichen, des Universums
verstanden. In mittelalterlichen Texten und noch bis in die frühe Neuzeit wird
ja immer wieder vom Erdenkreis gesprochen, der umschritten wird, unser
Planet wird also als Scheibe verstanden, über der sich die Halbkugel des
Himmelsgewölbes spannt. Dort oben, nicht genau verortbar, sitzt Gott auf
seinem Thron und lenkt alles Geschehen auf Erden. Dieses mittelalterliche Bild
wird dann abgelöst von dem der Weltkugel, womit es schon wesentlich
schwieriger wird, den Himmel und den Sitz Gottes zu verorten. Kreis und Kugel
stehen aber auch für die Ordnung der Welt, des Kosmos. Sie werfen die uralten
Rätsel und Sinnfragen auf, die an die Grenzen unseres Verstandes, unserer
Denkfähigkeit rühren: Wer sind wir?, woher kommen wir?, wohin gehen wir?
Wie sind Zeit und Raum beschaffen, wer und was ist Gott?
Während die drei großen monotheistischen Religionen Christentum, Judentum
und Islam noch weitgehend in geo- und anthropozentrischen Denkfiguren
befangen sind, versuchen die Naturwissenschaften, vor allem die Astrophysik,
diesen Fragen rational mit Theorien, Versuchen, Spiegelteleskopen und
Teilchendetektoren auf den Grund zu gehen.
Siegener Physikstudierende haben übrigens am innersten Detektor des Genfer
CERN-Teilchenbeschleunigers mitgebaut. Dank ihrer und vieler anderer
Astrophysiker wissen wir, wo unser Platz im Universum ist, am linken, äußeren
Arm einer Spiralgalaxie mit etwa 100 Milliarden Sternen. Alter unseres
Planeten: ziemlich genau 4,6 Milliarden Jahre, nur 300 Millionen Jahre jünger
als das Sonnensystem, dem wir angehören. Das beweisen jüngste
Gesteinsfunde in Alaska. Wo die Hölle ist, glauben wir auch zu wissen: unten.
Einige Kilometer unterhalb unserer ziemlich dünnen Erdkruste. Da zischt,
brodelt, glutet und brennt das flüssige Gestein des Erdinneren. Bei
Vulkanausbrüchen bekommen wir einiges davon mit. Doch schon in
Christopher Marlowes Dr. Faustus heißt es 1590: „Hell is not circumscribed, hell
is where we are.” Wo jedoch der Himmel ist, ist weiter ungewiss.
Im November 2019 haben die zusammengeschalteten Teleskope der 7 größten
Weltraum-Beobachtungsstationen unserer Erde zum ersten Mal Bilder von
einem Vorgang eingefangen, der belegt, dass auch im Universum das
kannibalische Prinzip des Fressens und Gefressen-Werdens herrscht. Zwei über
100 Millionen Lichtjahre entfernte Galaxien von annähernd gleicher Größe
verschlingen da einander. Die Anziehungskraft der größeren saugt die etwas
kleinere in sich hinein. Dabei entsteht ein gigantisches „Schwarzes Loch“,
welches Unmengen von Energien, Strahlen, Materie, Teilchen freisetzt. Daraus
ist sicher längst irgendein neues Gestirn entstanden, und auch unsere eigenen
Körper werden ja ständig von Teilchen aus dem Weltall durchbohrt, ohne dass
wir das merken. Ein Gott, der uns Menschen nach seinem Bilde schuf, hatte
dabei seine Hand nicht im Spiel, es sei denn, man identifiziert und versteht ihn
als Summe der Naturgesetze.
Aber blicken wir nocheinmal zu Dieter Ottens reiner, weißer Kugel zurück. SIe
schweigt uns in ihrer Perfektion an, kennt weder Unten noch Oben, ebenso das
Weltall. Sie gestattet, sie mit Assoziationsketten zu behängen, sie gedanklich
zu bemalen. Die Kugel als solche kann auch als Spielkugel, Tennisball und als
der Deutschen liebstes Sportgerät profaniert werden. Da muss dann, wie hier
auf Ottens Bild ,„das Runde in das Eckige.“ „Tor“!
Kommen wir nun zu Dieter Ottens zweitem Bild zu, dem er den vergleichbar
anspruchsvollen, assoziations- und symbolbeladenen Titel „HEIMAT“ (2013)
gegeben hat. In wohl kaum einer Sprache ist der Begriff „Heimat“ so
emotionsgeladen, herzensfühlig wie im Deutschen. Das Englische „home“ oder
„home country“ oder „native country“ drückt nicht annähernd das aus, was wir
im Wort „Heimat“ empfinden. Ottens von sinnlichen Pink – und im Zentrum von
Grüntönen beherrschtes Bild zeigt im Mittelpunkt eine geöffnete Hand, die
jenes Gerät hält mit dem ich jetzt ein Bild von Ihnen mache, ein Smartphone. Es
leuchtet auf und die Anzeige sagt „6.421 Fotos und 5 Videos“.
Ottens Bild verdeutlicht, aus der Hand geknipst, unsere schnelle Aneignung von
Natur und Heimat mit dem Smartphone, mit diesem Gerät, welches die
Computerwelt entscheidend verändert hat. Umgeben ist die geöffnete Hand
von einer Vielzahl blickender, glotzender, starrender Augenpaare.
Schemenhafte Menschenfiguren rennen durch den deutschen Wald, der in
unserer Sprache so existentiell zum emotionalen Heimatbild beiträgt.
Heimat hat viele Gesichter, und hat im Bergischen wie im Siegerland viel mit
Natur zu tun. Im Hintergrund des Bildes verschwimmen Städtenamen,
Hamburg, Berlin, und Reisedaten. Man kann Ottens Bild medienkritisch ebenso
wie affirmativ verstehen.
Ich entscheide mich bewusst für Letzteres. Dieter ist Berufsfotograf. Er muss
eine intensive Beziehung zu Kameras haben. Was bedeutet ihm deren Wandel
zum bloßen Bestandteil des Smartphones? Ich besitze eine ganze Reihe von
Kameras. Eine liegt, unnützerweise, immer im Auto. Bei meiner exzellenten
Canon-Spiegelreflexkamera, die mich einigermaßen gut fotografieren gelehrt
hat, entschuldige ich mich von Zeit zu Zeit, dass ich sie nicht mehr benutze, weil
mir das I-Phone doch mühelos Bilder von nahezu gleicher Qualität liefert!
Aber Heimat, was ist das? Eignen wir sie uns mit der Kamera an oder mit dem
Herzen und allen Sinnen? Ist es der Ort, die Region, das „Vaterland“, in dem, in
der wir geboren und geborgen sind, Wurzeln geschlagen haben? Ich bin in
Dresden geboren. Ich erinnere mich noch genau an den
Weihnachtsgottesdienst 1944 an der Hand meiner Mutter in der Frauenkirche,
an die Bank, in der wir saßen, an die Haptik des Holzknaufs der Bank vor mir.
Und dann waren da Bomben über Bomben und jahrzehntelang nur noch ein
Trümmerhaufen. Wir spendeten für den Wiederaufbau. Als ich nach 50 Jahren,
lange nach der Wende, zum ersten Mal wieder am gegenüberliegenden Elbufer
stand, auf die weltberühmte barocke Stadtsilhouette von Brühlscher Terrasse,
Schloss und Zwinger blickte, heulte ich Rotz und Wasser. Doch Heimat war das
nicht mehr. Meine Wurzeln waren und blieben jetzt im Siegerland.
Unser Sohn Kai, der sich in unserer Familie am besten auf das Nachahmen von
Dialekten versteht, empfängt Besucher gern mit dem Satz „Wo bist du von
wech?“ Das heißt übersetzt, der Fremde hat seine Wurzeln woanders. Er ist
erstmal keiner von uns. Will er einer werden, muss er sich assimilieren, sesshaft
werden, Heimatgefühle entwickeln. „Wo bist du von wech?“ Das ist freundlich,
aber zugleich ausgrenzende Neugier. Du bist – noch – keiner von uns.
Willkommenskultur und Fremdenhass, Xenophobie gibt es schon seit der
Antike und länger. Ich habe, zum Glück, bei Gastprofessuren in acht Ländern
immer nur das Erstere erfahren. Das liegt sicher wesentlich am Beruf, an der
Sprachenkenntnis und den Kochkünsten meiner Frau. Aber Heimatgefühle
entwickeln, Wurzeln schlagen können, hätte ich sicher auch an anderen Orten
als im Siegerland. So verstehe ich dieses Bild von Dieter Otten nicht als Kritik
an oberflächlicher Aneignung, sondern danke heiß und tief meinem
Smartphone, dass es mir so leicht zu guten Heimatfotos verhilft.
Wir kommen zum mittleren Bild unserer Kulturbahnhofs-Schau-Fenster Reihe,
der mit 150 x 300 cm echt großformatigen Arbeit mit dem Titel CLARITAS
INTERNA, das dritte aus Ottens Zyklus zum Lutherjahr 2017. Auf dem sparsam
reduzierten Bild zielt ein Senkblei genau auf die buchstabenlose Mitte eines
Buches, das ich in Ottens Kontext als die Bibel identifiziere. Und er trifft den
Punkt, das Herz der den Christen heiligen Schrift.
Luther spricht von der „claritas externa“ und der „claritas interna“. Letztere nur
begreifbar: „Wenn du von der inneren Klarheit sprichst, nimmt kein Mensch
auch nur ein Jota in der Schrift wahr, wenn er nicht den Geist Gottes hat.“
Beseelt vom „Geist Gottes“ will Luther ihm wahr machen, auch durchsetzen
und attackiert jene vor 500 Jahren bis ins Innerste korrumpierte Kirche. Er legt
ihre Betrugsmethoden offen, zerstört eines ihrer widersinnigen und
widernatürlichen Dogmen, den Zölibat, und gibt den Frauen mehr Rechte.
Zugleich schafft er und das ist vielleicht doch sein größtes Verdienst, mit seiner
Bibelübersetzung die Möglichkeit für alle des Lesens Kundigen, die Texte der
Heiligen Schrift zu lesen und etabliert damit unsere moderne, hochdeutsche
Sprache.
Wenn Otten vom „Mythos Luther“ spricht, dann schwingt da entweder Distanz
mit, oder er meint, was man heute gern „das Narrativ“ nennt. Mythen sind
ihrem Kern nach immer Erzählungen: Als Narrative verselbständigen sie sich
dergestalt, dass jeder schon mit der Nennung des Namens den Aha-Effekt einer
bestimmten Vorstellung verbindet.
Ungeachtet des Erfolgs von Luthers Reformation drehte bald darauf die
Gegenreformation in vielen Regionen Europas das Rad der Geschichte wieder
auf die alten Zustände zurück. Das hatte vor allem machtpolitische und nur
vorgeschobene Glaubensgründe, im Siegerland gut zu verfolgen an der
Geschichte des zu Netphen gehörigen „Johannlandes“.
Die Verbrechen von Teilen des katholischen Klerus gingen weiter. Denken Sie
an die als Rechtsprechung getarnten Einschüchterungs-, Folter- und Mordtaten
der „Heiligen Inquisition“. Ich habe einige Akten Siegener Hexenprozesse
gelesen, möchte Ihnen aber Details ersparen. Die schlagen nämlich fürchterlich
auf den Magen.
Kunstgeschichtlich machen vor allem die „Caprichos“ des Lothringer
Kupferstechers und Radierers Jacques Callot aus dem 30-jährigen Krieg und
Francisco de Goyas „Desastres de la Guerra“ (1810 – 1814) Gräueltaten und
sexuelle Verfehlungen von Mönchen und Klerikern in aller Deutlichkeit
sichtbar.
Was heute immer offener zutage tritt, nämlich jahrhundertelang ungesühnte,
millionenfache sexuelle Verfehlungen von Teilen des, vor allem katholischen,
Klerus, hat also Tradition. Wenn gegenwärtig, allein in Deutschland, jährlich
Hunderttausende den beiden großen christlichen Konfessionen den Rücken
kehren, so hat das mit den genannten sexuellen Missbräuchen, aber auch mit
drei weiteren Hauptgründen zu tun, die den Reformstau der Kirchen ebenso
sichtbar machen, wie wir es am Zustand unserer Straßen und Schulen sehen.
Wenn man sich, wie ich, seit dem Studium mit religionshistorischen und
philosophischen Vorlesungen und danach mit zahlreichen Religionen dieser
Welt befasst hat, dann kranken, von außen mehr noch als von innen gesehen,
die drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam
an drei grundlegend reformbedürftigen Problemen. Während sich in der
griechischen Götterwelt zahlreiche weibliche Göttinnen tummeln, Verehrung
und Opfer beanspruchen, herrscht im Christentum zum Ersten das einseitig
vermenschlichte und vermännlichte Gottesbild. Vater, Sohn und Heiliger Geist,
eine männliche Trias, in der für Mutter und Tochter kein Platz ist. Damit
einhergehend ist es die jahrtausendelange Zementierung des Patriarchats,
wodurch patriarchalisch geprägte, religiöse, politische, wirtschaftliche,
moralische, psychische Machtstrukturen, auch bis in unsere Gegenwart in
vielen Gesellschaftsbereichen, einschließlich der Sprache, fortwirken. Und
wiederum damit einhergehend, ist es zum Dritten die Deklassierung einer
Hälfte der Menschheit, nämlich der Frauen, zu Menschen zweiter Klasse. Dieses
gesamte „Vater-unser-System“ muss gesprengt, aufgebrochen und, einem
modernen Wissenschaftszeitalter angemessen, grundlegend reformiert
werden. Das heißt in der Konsequenz, Glaube muss heute neu gedacht werden.
Erst dann hat Religion auch in unserer Gesellschaft wieder eine echte Chance,
wenn nicht, dann erfolgt die weitere Marginalisierung.
Das sind so die Gedanken, die einem wie mir kommen, wenn er anschaut, wie
Dieter Ottens Senkblei sich urteilend auf das Zentrum der „Heiligen Schrift“
herniederlässt. Er selbst mag da ganz anders denken, fragen Sie ihn!
Das vierte Bild in unserer Reihe, lieber Dieter, ist zumindest vom Titel
SECONDHAND LIFE (2008) her deutlich „dated“, d. h. zeitlich überholt, selbst
wenn es sich dabei nicht, wie der in Blaulicht getauchte Bildschirm mit seinen
angedeutet kastenförmigen Umrissen vermuten lässt, um ein Fernsehgerät,
sondern ganz allgemein um Bildschirme handeln sollte. Was weiterhin stimmt,
ist das blaue Licht, welches vom Schirm ausstrahlt, die gesamte Bildumgebung
in blaues Licht taucht. Das macht den Augenärzten zunehmend Sorge, weil es
für alle Bildschirme, in welcher Größe auch immer, gilt und den Augen schadet.
Die Person, ob männlich, weiblich oder gar ein Tier – es gibt auch einen Hunde-
Fernsehkanal – wird bewusst im Unklaren gelassen. Sie schaut auf den leeren
Bildschirm und ist gleichfalls in Blau getaucht wie die vielen aus dem
Bildhintergrund herausstarrenden Augenpaare. Sie sollen wohl jene anderen
repräsentieren, die ebenso dem Leben aus zweiter Hand verfallen sind, wie die
auf den Schirm blickende Person. So lautet ja auch eine der heutzutage
meistverwendeten Redensarten: „Das habe ich oder hatte ich nicht auf dem
Schirm“. Handelt es sich bei Ottens Bild um Fernseh-Medienkritik, so ist das
Bild thematisch, nicht ästhetisch, zeitgebunden, überholt. Im Jahr 2008 war
unser Leben noch nicht entfernt so multimedial und multidimensional
ausgerichtet, wie in der Gegenwart des Jahre 2020.
Konnte man vor 30 Jahren noch Realität, Imagination, Vorstellungs- und
Einbildungskraft, eben Realität und Virtualität, trennscharf und sauber
definieren, voneinander abgrenzen, so haben sich seitdem zunehmen Realität
und Virtualität miteinander verschränkt, verwoben, integriert, so dass ein
neues Bewusstsein dessen entstanden ist, was wir unter Realität, in Dieters
Terminologie „First Life“ verstehen. Mediale Wirklichkeiten prägen unser
Leben. Interaktive Filme, Radio und Fernsehen sind entstanden. Jeder kann auf
Facebook und YouTube u. a. Plattformen mehr oder weniger selbst künstlerisch
aktiv werden. Doch jedes neue Medium entwickelt auch genuine eigene
Künste. Menschen kommunizieren über Messenger Dienste wie Facebook,
WhatsApp, Instagram und Twitter. Das Regierungshandeln des Präsidenten der
USA vollzieht sich vornehmlich über Twitter.
Mit der neuesten Generation von „Smartwatches“ trägt man quasi ein
medizinisches Labor am Handgelenk. Statistisch verbringt inzwischen jeder
Deutsche vom Säugling bis zum Greis, täglich 3,5 Stunden im Internet, 55 %
der in Ehen mündenden Partnerschaften sind inzwischen über das Internet
zustande gekommen. Was jedoch Dieter 2008 meinte, jenes sich von der
Lebensrealität abnabelnde Verfallen-sein an eine mediale Welt, vollzieht sich
mittlerweile überwiegend im Bereich superrealistischer Computerspiele, bei
jenen Gamern, die spielsüchtig werden, wie einst notorische Spieler, die im
Casino Haus und Hof, Hab und Gut, Weib und Kind, ihre ganze bürgerliche
Existenz verspielten. So würde ich denn auch Dieters Bild von 2008 umtaufen in
„Fallen to the Media“ o.ä.
EISBERG VORAUS, eines seiner Hauptwerke, gleichfalls aus dem Jahr 2008, hat
Dieter Otten das letzte Bild unserer Reihe betitelt. Auf den ersten Blick scheint
das Bild und seine Symbolik leicht entzifferbar. Doch, je tiefer man eindringt,
desto komplexer wird es. Klar, da erstreckt sich im Vordergrund der im Juni
2005 eingeweihte Stelenwald mit 2710 Betonstelen im Zentrum Berlins auf
einer Fläche von 19.000 m² südlich des Brandenburger Tors. Darunter wurde
eine unterirdische Gedenkausstellung mit vier Ausstellungs-, zwei
Vortragsräumen und einem Buchladen errichtet.
Gewidmet ist die gesamte Anlage dem Gedenken der unter Hitler und den
Nationalsozialisten ermordeten 6 Millionen Juden Europas. Wenn man weiß,
dass sich auf diesem Gelände der Todesstreifen der Berliner Mauer erstreckte
und dass hier in den Jahren der Nazi-Ära die Stadtvilla von Joseph Goebbels
stand, vertieft sich die Symbolik. Wo sich heute die unterirdischen
Museumsdokumentationsräume befinden, kam bei den Bauarbeiten der
unterirdische Gefechtsstand der SS-Division „Nordland“ während der Schlacht
um Berlin im Frühjahr 1945 zum Vorschein. Er wurde versiegelt und
konserviert.
Manch einer von Ihnen mag sich noch der hitzigen und kontrovers in allen
Medien geführten Debatten erinnern, die während der Planungs- und Bauzeit
dieses Mahnmals geführt wurden. Herzlich und eindringlich möchte ich Sie
bitten, sich im Internet die ausführliche Dokumentation dieses Bauwerks
anzusehen. Tiefer darauf einzugehen, würde den Rahmen dieser
Eröffnungsrede sprengen.
Zentral im mittleren Hintergrund dieses Fotogemäldes fährt ein Schiff durch
den Stelenwald, wird von ihm durchdrungen, befindet sich aber in Schieflage.
Ohne Namen am Bug identifiziert der Betrachter das Schiff unschwer als die
„Deutschland“, das deutsche Staatsschiff, das in schwerem Wasser zu kentern
droht. Im Hintergrund schwebt gleichsam machtvoll der von Sir Norman Foster
entworfene, neu-alte Reichs- und damit Bundestag, dieser wiederum
symbiotisch verwachsen mit dem Brandenburger Tor samt galoppierender
Quadriga und dem Reichsadler. Ein spezifischer Eisberg, auf dem das
Staatsschiff aufzulaufen droht, ist nicht auszumachen. Das ist auch gut, denn so
behält das Werk seine fortwährende Aktualität.
Subtil, behutsam und doch im Kontext anrührend hat Otten Fotos von
Menschenschicksalen in die von ebenerdig bis 4,70 m hohen Stelen
eingewoben. Deutsches und jüdisches Geschichtsverständnis sind somit, wie
Angela Merkel es am 6. Dezember 2019 im Bundestag unmissverständlich
erklärte, unauflösbar miteinander verbunden.
Ich selbst gehörte zu den Gegnern dieses Entwurfs und zwar aus dem einfachen
Grund, dass ich Beton als Baumaterial für ungeeignet empfand. Das hat sich mit
immer häufigeren Rissen schon ab 2008 bestätigt.
Dieter Ottens EISBERG VORAUS aber stellt einen bleibenden Beitrag deutscher
Kunst zu den Verbindungen von deutscher und jüdischer Geschichte in
Vergangenheit und Gegenwart dar. Wenn ich heute einen möglichen Eisberg
orten kann, der das Schiff „Deutschland“ zumindest ins Schlingern, wenn nicht
zum Kentern bringen könnte, dann in den Veränderungen deutscher Parteien
auf nationalistischen Rechtskurs. Die AfD biedert sich für mögliche Koalitionen
mit der CDU geradezu an. Und wenn ich sehe, dass in Thüringen, einer Region,
die ungeheuer viel von der Wiedervereinigung profitiert hat, Hunderttausende
eine Partei wählen, die von Björn Höcke geführt wird, der noch dazu
ehemaliger Geschichtslehrer ist, dann wird mir Braun vor den Augen. Höcke hat
das von Otten zum Thema gewählte Ehrenmal zum „Schandmal“ im Zentrum
der deutschen Hauptstadt erklärt.
Politiker wie er haben mit der Demokratie nichts am Hut. Sie wollen die Rolle
rückwärts in ein national-konservatives, autoritär geführtes, zudem
fremdenfeindliches, rassistisches und antisemitisches Deutschland. Bestürzend
nur, ein wie hoher Prozentsatz der Bevölkerung bereit ist, ihnen dabei zu
folgen.
Dieter Ottens Bild EISBERG VORAUS begreife ich als Mahnung und Warnung,
zumal ich während meiner Gastprofessur an der Hebrew University in
Jerusalem einige der prägendsten Erlebnisse meines Lebens erfahren habe und
Familien mit deutscher Herkunft kennenlernte, die trotz der Ermordung vieler
ihrer Angehörigen im Holocaust noch immer mit tiefer, innerer – eben
Heimatliebe – an Deutschland, seiner Kultur und Sprache hängen.
Was am Ende der griechischen Tragödie das heitere Satyrspiel zur Ermunterung
der seelisch gestressten Zuschauer verkörperte, ist in dieser Ausstellung die
Kehrschaufel mit dem Titel und den Papierschnipseln, die da sagen YES WE
CAN. Ist das der ironische Kommentar Dieter Ottens zur gescheiterten Politik
Barack Obamas? Alles nur leere Versprechen eines Mannes, der kam, um vieles
neu zu machen der weltweit geradezu wie ein Messias herbeigewünscht wurde
und Schiffbruch erlitten hat? Wieder mal ein falscher Messias, der kein Erlöser
war? Oder ist er doch anders zu verstehen?
So verstand ich jedenfalls Obamas Rede vor der Berliner Siegessäule 2012 als
die großartigste, visionär-politische Rede, die ich in meinem Leben gehört
habe. Hätte er damals, als Präsident in Deutschland zur Wahl gestanden, hätten
ihm 90 % ihre Stimme gegeben. Obwohl ich genau hinschaute, sprach er in
meinen Augen frei. Erst viel später habe ich erfahren, dass er doch vom
Teleprompter abgelesen hat, also auch mit Wasser kocht.
Obama war nicht nur der erste schwarze Präsident der USA. Er hat vieles
angepackt und reformiert, vor allem auf dem desaströsen amerikanischen
Gesundheitssektor mit seinen immensen Kosten. Ist davon wirklich nur das zum
Spott gewordene YES WE CAN geblieben? Auf jeden Fall hat sein Nachfolger,
jener rassistische Rüpel mit deutschen Wurzeln, sofort nach seiner Wahl
begonnen, alles rückgängig zu machen, was Obama an Reformen in Gang und
durchgesetzt hatte.
Das heißt aber nicht, dass seine Ideen für alle Zeit passé sind, nicht
wiederkommen könnten. Vor zwei Jahren habe ich an einem amerikanischen
Architekturbuch mitgearbeitet, das ausgerechnet den Titel TRANSPARENT
ARCHITECTURE trägt. Wenige Monate nach Trumps Regierungsantritt mailte
mir der Herausgeber des Buches, der Architekt Gordon Gilbert: „Oh Christian,
Christian, if we only could have Clinton or Obama back. What a horror! But we
are strong, Yes, we can and will survive even Donald Trump.”
Überleben werden auch Dieter Ottens Bilder, die kontroverse Themen auf
Punkte verdichten, von denen aus sich dann wieder wellenartig verschiedene
Symbolebenen entfalten. Und nicht zu vergessen, ja ganz besonders attraktiv,
seine Farbwelten, jenes engelsgleiche Unschuldsweis, dann das den Betrachter
einhüllende, irisierende Blau und zu guter Letzt Ottens betörend leuchtende
und zugleich ins Dunkle verschwimmende Pink.
In diesem Sinne, lieber Dieter Otten, hab‘ Dank für eine nicht avantgardistische,
aber thematisch wie inhaltlich ausgesprochen anregende Ausstellung, die
manch aktuelle Themen diskussionswert auf den Punkt bringt.

Dieter Otten und Christian W. Thomsen
Bodo Gerono und Marianne Demmer
Das Publikum